INDIO GRIS
EINPERSONEN-ZEITSCHRIFT ZUR
ANSAMMLUNG VON MÜLL
NR.
30 JAHR 2000 DONNERSTAG 21. DEZEMBER
ES
FUSIONIERT, LEITET, SCHREIBT
UND VERANTWORTET: MENASSA 2000
WIR KÖNNEN ZWAR NICHT
SPRECHEN,
DAFÜR TUN WIR'S IN MEHREREN SPRACHEN
SPANISCH, FRANZÖSISCH, ENGLISCH, DEUTSCH,
ARABISCH, PORTUGIESISCH, ITALIENISCH, KATALANISCH
INDIO GRIS
IST
PRODUKT
EINER FUSION
DER GLANZ DES GRAUS
UND
DER INDIANER AUS DER JARAMA
DIE ZUKUNFTSTRÄCHTIGSTE FUSION
DES
21. JAHRHUNDERTS
INDIO GRIS NR. 30
1
28.
JULI 1978, MADRID
Liebes:
Ein
Brief für dich, ein Winterhauch in dieser Hölle. Madrid scheint ein
Kremateriumsofen zu sein, 40 Grad im Schatten sind 100, 120 Grad in der Sonne
oder unter der Sonne.
Im
allgemeinen ist das Leben eine Illusion. Es ist schwierig zu erreichen, dass
alles gelingt. Manchmal verliert sich mein ganzes Leben zwischen kleinen
Papieren, kleinen Verwaltungsangelegenheiten.
2
18.
SEPTEMBER 1978, MADRID
Liebes:
Geburtstag
zu haben ist auch von relativer
Existenz, hängt auch von anderen ab.
Hier in Madrid ist September ein Monat, der sehr unserem September gleicht. Im September in Madrid gibt es immer eine Sonne, immer eine Brise. Im September weiss ich normalerweise nicht, wo ich wohne. Im September hat irgendjemand endgültig Geburtstag.
Buenos
Aires ist für mich, das gebe ich zu, eine Erinnerung.
Ich
stosse mit euch an, drücke noch einmal eure Herzen, denn mit 40 kann man mit
seinen Herzen machen, was man will.
Euorpa
ist letzten Endes ein wunderschöner Ort zum Leben. ALLES GUTE ZUM GEBURTSTAG!
Es ist als ob man sagte, das Leben meint es gut mit uns.
Mit
jedem Tag, der vergeht, fällt mir das Schreiben schwerer. 500 Seiten in einer Mappe
eingesperrt, das ist wohl zweifellos ein Fehler. Ist wohl zweifellos ein dummes
Vorgehen. Ein grosses Talent in der Armut eingesperrt. Ein tiefgefrorener Adler
in allergrösster Not.
Himmlisches, Sarkastisches und kleine Wirbelstürme, eingesperrt in der Erinnerung. Wenn ich mich menschlich fühle, fehlt es mir an allem, bin ich ganz Sehnsucht, Verlangen. Alles Gute zum Geburtstag.
3
21.
OKTOBER 1978, MADRID
Liebes:
Heute
bin ich vollkommen gesund aufgestanden. Wir könnten sagen, das Leben meint es
gut mit mir. Die Veröffentlichung von CANTO A NOSOTROS MISMOS TAMBIÉN SOMOS AMÉRICA,
im Druck, hat mir gut getan. Es ist ein Buch das im September 77 geschrieben
wurde, am ersten und am zweiten. Ich ertrug es nicht länger bei mir zu Hause.
In dieser Freude beschliesse ich, wie dem auch sei, alle meine Schriften nach
und nach zu veröffentlichen.
Hier
in Madrid, wird demnächst zumindest
für mich un die Leute meiner Umgebung die berühmte Zeit des Lebens anfangen.
Eine Zeit in der Familein (welche Art von Familien auch immer) Besuch empfangen
können und der Besuch wird entsprechend nett behandelt.
Spanien,
das ist klar, ist ein Land, das entschlossen seiner Demokratisierung entgegen
geht, und das heisst nichts und doch viel, denn wenn auch gewisse Werte während
der Europäisierung eingeführt werden ( das heisst in jedem Fall Dekadenz),
erscheint andererseits unsere Poesie in diesem Prozess als einzige Poesie, die
in Spanien geschrieben wird (so sagen es die Spanier und einige befreundete
Araber), die sich erfolgreich widersetzen kann, und zwar sowohl den Kümmernissen
der Vergangenheit als auch der neuen Gleichgültigkeit, die aufgrund eines
offnsichtlichen Fehlens moralischer Werte geschaffen wurde.
Wenn
wir uns alle aufmachen, dann könnte ich vor Jahresende ausser Canto... zwei
weitere Bücher veröffentlichen. Einen Gedichtband, fast rein, mit etwa hundert
Seiten “EL AMOR EXISTE Y LA LIBERTAD” und ein Buch zur Philosophie, Poesie
und anderem Grünzeug, mit etwa 200 Seiten, “GRUPO CERO, PSICOANÁLISIS Y POESÍA,
ESE IMPOSIBLE”, das wären dann drei Bücher in weniger als einem Jahr. Hier
in Europa, blanker Wahnsinn, was sicherlich seine Folgen hätte.
Einige
Interviews in Tageszeitungen und im Rundfunk beweisen mir, wie Spanier und
einige junge Argentinier allmählich merken, dass wir weder ein noch tausend
Menschen sind, sondern vielmehr eine Bewegung. Und eine Bewegung, wenn es auch
niemand merkt, hat ihre Gedanken, ihre Art zu leben, ihre Wirtschaftspolitik.
Der
Versuch, eine der Situation des Voneinander-Weitgetrennt-Lebens angemessenere Korrespondenz
zu führen, wird uns allen gut tun.
Ich
meinerseits abgesehen von ein paar Aspekten der Realität werde mich jeden
Tag intensiver um das Thema Korrespondenz kümmern, das im Augenblick das
einzige Mittel ist, mit dem wir rechnen können, um bei der berühmten
Intersubjektivität mitzuarbeiten.
Uns
zu schreiben, sollte mehr als eine Pflicht, ein Recht sein.
Ein
wenig Realität schadet niemandem. Nach zwei Jahren in diesem fremden Land
beginne ich zu empfinden, das es möglich sein wird, zu leben. Nach und nach
erkennen die Leute meine Tüchtigkeit in der Wirklichkeit an. Alle Kinder und
alle Jugendlichen gehen in Schulen und öffentliche Gymnasien.
Ich
verabschiede mich in der Überzeugung, wenn sie uns lesen, werden sie uns dafür
auszeichnen.
4
22.
OKTOBER 1978, MADRID:
An
Illusionen verbleibt mir eine einzige, Filme zu machen. Ich schätze, dass ich
in etwa 25 Jahren meinen ersten Spielfilm beendet haben werde.
5
19.
NOVEMBER 1978, MADRID:
Liebes:
Würdetst
du nicht gerne Europa kennenlernen?
Ich
höre Tangos und denke an meine Heimatstadt, aber ohne zu wissen, was das
eigentlich bedeuten soll.
Ich
klammere mich an die zweifelhaften Gesetze der Vergangenheit, erinnere mich.
Ein
Hof, Glyzinien. Ein holpriges Pflaster. Kleine Pappsternchen zwischen den Fässchen.
Ich
erinnere mich an alles, Kind.
Den
Himmel und Schlag-im-Kreis
Den
wütenden Schnepfenhupf und deine Schwanenschritte und deinen freien, überlegten
Fall in die Hölle.
Würderst
du nicht gerne Europa kennenlernen?
Ich
öffne weit die Fenster, damit der Morgen in aller Ruhe mein Haus durchströmen
kann.
Ich
erwarte keine Antworten vom Wind, auch nicht von dem wirren Duft, den der Wind
von den Ozeanen bringt.
Ich
schreibe, denn Schreiben ist eine Kunst.
Eine
Art das Leben zu verbringen, wie irgendeine andere auch. Und wenn ich nicht vom
Wind das Brausen erwarte, auch nicht von den höchsten Bergen das berühmte
Zeichen. Wenn ich nicht erwarte, dass es für mich worte der Liebe gibt. Wenn
die Begegnung immer gewaltig ist, vielfach, dann bin ich eine Gruppe.
Ein
Schwarm von Düften gegen die Düfte der Vergangenheit.
Eine
fortwährende Transpiration, überbordend. Dauerndes Gallebitter.
Ein
Tango und sein Hin und Her. Stellst du dir das vor?
Die Höhenangst eines Schritts nach hinten und die Erinnerung daran.
Würdest
du nicht gerne Europa kennen lernen?
Schreiben,
also schreiben tue ich langsam, nicht überstürzt. Als ob ich nur von
Reisenhaftem umgeben wäre.
Ich
würde mich gerne lange mit dir im Speisesaal von Carbonero y Sol unterhalten.
Ich
höre Falmenco, weil der Flamenco etwas vom Tango hat. Etwas von halb
verwirklichter Illusion.
Eine
Entdeckung und ihre Enthauptung.
Ein
zweite Seite zu versuchen, heisst dem Morgen allem und jeden Sinn abzusprechnen.
Seit
einer Woche male ich wieder. Wenn du meine letzten Bilder sehen würdest, würdest
du eine Veränderung an mir feststellen.
Ich
bin fähig, Menschengesichter zu malen. Damit möchte ich dir sagen, ich bin fähig,
Blicke, Lächeln, mürrische Gesten
oder auch allgemeine Zerstreuung zu malen. Meine Vögel vom letzten Jahr haben
sich in Augen und Gesichter verwandelt. Und in einer Woche habe ich Fortschritte
von Jahren gemacht. Ich werde dir Fotografien schicken.
Würdest
du nicht gerne Europa kennen lernen?
Carbonero
y Sol ist eine einmalige Erfahrung. Owen und Fourier würden uns beneiden.
Das
Utopische ist immer utopisch für eine Art Vernunft.
Eine
Masseinheit des Sicheren ergibt eine Masseinheit des Fantastischen.
Eine
vernünftige Tat, und das wussten die Alten ausserhalb von dem was man als
Kontext bezeichnet, verliert ihre Vernunft.
Experimente
können nach vorgegebenen Gesetzen durchgeführt werden, oder man kann auch
genau auf der Grundlage ebendieses Gesetzes experimentieren.
Eine
Art rotglühendes Experiment, aber in Grün.
Ich
trinke meinen Kaffee, drehe mit meinen eigenen Händen meinen eigenen Tabak,
Ernte 1978 und höre Tangos.
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19. NOVEMBER 1978, MADRID:
Liebes:
Sterben,
leben, die Ewigkeit lieben und, das auch, die Sonne und die Regentage und dein
feuchtes Haar mit 17 Jahren in der Abenddämmerung und den unvergesslichen Glanz
deiner Augen.
Warum
schreibst du mir nicht? Oder willst du, dass ich dich aus der Bewegung
hianuswerfe?
Meine
Politik, die Politik der Gruppe 0, berücksichtigt den Menschen und seine
kreativen Möglichkeiten. Ich strebe eine Gemeinschaft an, in der Männer und
Frauen mit dem Genuss zusammen leben können und, warum nicht, auch mit dem
Schmerz, das aber 200 Jahre lang. Das ist alles, was ich anstrebe, wie du
siehst, Unsinn.
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1
MÄRZ 1979, MADRID
Liebes:
Ich
habe, eiliger-, verückter-, einfacherweise deinen Brief gelesen.
Ich
habe deinen Brief gelesen, so wie man Wandplakate der Parteien, die man liebt,
liest.
Mit
Zärtlichkeit, ich habe deinen Brief mit Zärtlichkeit gelesen, mit
Leichtigkeit, mit dem vollen Geist des Lebens.
Mit
dem Verlangen zu wissen, was immer du mir diesmal auch sagen würdest, es würde
mir gut tun.
Oh,
der Wahnsinn und seine Gründe, ein unendliches Umkreisen des Gleichen, ohne
dass etwas unwahr erscheint, alles wahr.
Deine
Schriften beeidrucken mich, und ich frage mich, warum ausgerechnet deine
Schriften in keiner Veröffentlichung der Gruppe 0 weder von Madrid noch Buenos
Aires erscheinen.
Verwahrloste
Trauerweiden umsäumen meine Umrisse, ich bin
Ödland und seine Referenzkreislaufbahn, eine Art Dauersommer und seine
Früchte. Nachtdisteln für meine Haut eines verliebten Kindes.
Danke,
dass du für uns, eine Begegnung am Waldesrand ausgedacht hast,
umgeben von durch die Genauigkeit unseres Dialogs verschreckten
Eingeborenen.
Umhüllt
von unbekannten Edelsteinen, mache ich noch einen Satz nach vorn: Jedes
Altsein ist eine Niederlage der Intelligenz.
Also,
sobald die Intelligenz nicht mehr kann, dann muss der Körper her, und wir
werden damit anfangen, alt zu werden.
Sprechen
ist ein Modell (manchmal werden wir dafür kritisiert) und auch das verzweifelte
Umherkreisen in Sternenräumen ist ein Modell. Und den Nebel zu trinken und
vollkommen einbalsamiert in einer Erinnerung zu verharren, das ist auch ein
Modell.
Zusammen
mit diesem kleinen Brief, in dem ich dir sagen möchte, wenn es vielleicht auch
nicht klar zum Ausdruck kommt, wie sehr ich mich über deinen Brief gefreut
habe, schicke ich dir mein letztes veröffentlichtes Buch. GRUPO 0, ESE
IMPOSIBLE Y PSICOANÁLISIS DEL LIDER, ein für mich unvergessliches Werk.
EINE LEIDENSCHAFTLICHE LIEBE
EIN GRENZENLOSES BEGEHREN
EINE FRAGLOSE ZÄRTLICHKEIT
Ein Buch von Miguel Oscar Menassa
Für ein besseres Vertragen mit seiner Lebensgefährtin an Feiertagen
Und an dem einen oder anderen Arbeitstag
“Dieser
Roman ist ein Denkmal an den Wunsch und nicht an seine Befriedigung, und
der Wunsch passt weder in Formen noch in Normen.” Leopoldo de Luis |
“Menassa macht aus der Erotik eine wahrhaftige Enzyklopädie der sexuellen Beziehungen” Juan-Jacobo Bajarlía |